Kulturpolitik in Europa ist nicht nur ein marginales Politikfeld im Kompetenzbereich der EU, sondern vages Terrain auch hinsichtlich entsprechender Forschung und Theoriebildung.. Wenn auch einigermaßen zahlreiche empirische Studien zu einzelnen Teilbereichen des Themas vorliegen, bleiben diese jedoch nicht nur regional beschränkt oder thematisch beengt, sondern auch in den meisten Fällen instrumentell, trivial und untertheoretisiert. Umso schwieriger ist es, dem Wollen der vorliegenden Studie einigermaßen seriös zu entsprechen, nämlich Aussagen zu treffen, die die mittelfristigen Perspektiven dieses komplexen Feldes betreffen. Um nun - auch wenn das einigen Charme hätte - nicht allzusehr der poetischen Spekulation oder Fiktion anheimzufallen, haben Studienkoordinator Raimund Minichbauer und unser Institut die Annäherung an dieses Vorhaben durch folgende Vorbedingungen abgesichert.
Manchmal scheint es, als ob die Verhältnisse und Politikformen, in und mit denen wir in Europa leben, sich einfach zu jenen rigiden Ausformungen zurück entwickeln würden, die in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in je verschiedenen Weisen beide Seiten des Kalten Kriegs geprägt haben: Autoritarismus, Top-Down-Konsens und rigide Exklusion von Minderheiten im allgemeinen, Verfolgung politischer KünstlerInnen, Abschaffung missliebiger Institutionen, Zensur und Kriminalisierung im Bereich der Kulturpolitik. 1968 und die 1970er Jahre könnten in dieser Hinsicht als kurzer Bruch gesehen werden, dem die Wiederherstellung der beengt-geordneten Verhältnisse in den darauffolgenden Jahrzehnten bis ins neue Jahrhundert hinein folgt und weiterhin folgen wird. Bei genauerer Betrachtung stellt sich die Entwicklung der letzten 50 Jahre jedoch weniger als kurz unterbrochene Wiederholung derselben reaktionären Muster dar, sondern eher als komplexes und sukzessives Fortschreiten des neoliberalen Kapitalismus und immer schnellere Aneignung der jeweiligen Widerstandsformen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren die europäischen Nationalstaaten in Westeuropa noch einigermaßen so konstruiert, dass die Staatsapparate im Wesentlichen die kapitalistische Maschine regulierten. Ohne den molekularen Unruheherden, den Mikro-Faschismen der verschiedenen Formen des Faschismus der ersten Hälfte des Jahrhunderts größeren Platz einzuräumen, waren diese molaren Staatsapparate Modelle harter Segmentarität, der Totalisierung und Zentralisierung. Dementsprechend hatte Kulturpolitik vor allem den Auftrag, die Nationen als Kulturnationen einzukerben und nationale Identitäten zu stärken. Staatliche Angriffe auf avantgardistische (oder einfach nur moderne) Kunst konnten - in Österreich etwa auch noch teilweise in Kontinuität zum NS-Regime - zur Stärkung dieses kulturpolitischen Autoritarismus beitragen. Mit den molekularen Revolutionen der 1960er und 1970er Jahre wurde dieses Paradigma der nationalstaatlichen harten Segmentarität in Westeuropa endgültig durchbrochen. Auf kulturpolitischer Ebene entstand eine Phase der Erprobung emanzipatorischer Konzepte, die die westeuropäische Linke interessanter Weise hauptsächlich gerade der Kulturpolitik der frühen Sowjetunion (Proletkult, LEF, Produktivismus, Konstruktivismus) entnahm. "Kultur für alle" und "Kultur von allen" sollten ein zweites Mal die Kunst auf die Straße und ins Leben bringen und scheiterten diesmal nicht an der Strukturalisierung des Staatsapparats und der Kulturpolitik wie in Stalins Sowjetunion, sondern an den Adaptierungspotenzialen des postfordistischen Kapitalismus. Hier kehrt sich die Aneignung vollends um: Die Staatsapparate sind nur noch Teile der kapitalistischen Maschine, die allenfalls entgegengesetzt oder hinzugefügt werden können. Während die Bewegung von De- und Reterritorialisierung in den Nachkriegsjahren noch als Übercodierung der kapitalistischen Maschine durch den Staatsapparat verstanden werden kann, ist im Kontext der als Globalisierung gelabelten Entwicklung zunehmend von einer umgekehrten Appropriation und Codierung der Staatsapparate durch die Maschine zu sprechen. Die 1968er-Generation ist Teil dieser Deterritorialisierung, sie tritt vor allem in ihren antimilitaristischen, feministischen und nicht-repräsentationistischen Strömungen gegen den autoritären Nationalstaat auf, leitet damit allerdings in den darauffolgenden Jahrzehnten auch zunehmend die Zerreibung des Wohlfahrtsstaats ein. Das betrifft auch die Rücknahme staatlicher Kulturpolitik und -finanzierung. Statt immer neue Wellen molekularer Kämpfe mitzugestalten, verlieren die emanzipatorisch-kulturpolitischen Konzepte der 1970er Jahre in den 1980er und 1990er Jahren ihre politische Brisanz und stülpen sich um in ein neues Paradigma des Spektakels, der Kreativität und der Produktivität. Heute finden sich in der aktuellen Praxis wie in der Programmatik von Kulturpolitiken in Europa Spuren aus allen drei oben skizzierten Phasen:
Für die kommende Zeit ist zu erwarten, dass diese drei Linien des Identitätskulturalismus, der gouvernementalen Kontrolle und der neuerlichen autoritären Interventionen von Seiten eines ansonsten seinen Rückzug inszenierenden Nationalstaates sich noch stärker verschränken. Damit einher gehen die Gefahren eines weiteren inhaltlichen Autonomieverlusts von Kunstproduktion, Kulturarbeit und Kulturpolitik, der zunehmenden Vereinnahmung des Politischen in der Kunst und der Verknappung der Gelder für demokratiepolitische und -kritische Aspekte in Kunst und Kultur. Für die Prognose von Entwicklungen für Kulturpolitik und Kulturförderung in Europa in den nächsten zehn Jahren ist dieser Zusammenhang wichtigster Referenzpunkt, der auf allen Ebenen (von der lokalen über die nationale bis zur supranationalen) negative Effekte erwarten lässt. Gerade deswegen sind Strategien notwendig, die radikal-reformerischen - also keineswegs nur auf kleinere Begradigungsmaßnahmen im begrenzten Feld der Kulturpolitik abzielenden - Elemente des kulturpolitischen Diskurses in Europa zu stärken und zu vernetzen. Der Begriff "radikal-reformerisch" soll dabei anzeigen, dass es - vor allem im gouvernementalen Setting - unsrer Ansicht nach einerseits nicht reicht, in abstrakter Negation die diversen Staatsapparate anzugreifen, soziale Bewegungen als das absolut Andere der Institutionen (seien sie staatliche Bürokratien, freie NGOs oder autonome Selbstorganisationen) zu verstehen. Andererseits geht es hier durchaus auch darum, Brüche herzustellen, die die vereinnahmende Verstrickung im Netz der vervielfältigten Mediation durchschneiden. Es geht dabei um andere Methoden als die der Intervention von Interessenvertretungen und Lobbies, und es geht um die Forcierung von Inhalten, die sich wenigstens auf Zeit der Umcodierung widersetzen: etwa in der exemplarischen Idee der französischen Intermittents, die nicht nur ihre Rechte verteidigen, sondern auch die Ausweitung dieser Rechte vom Feld der Kulturarbeit in Richtung eines allgemeinen Grundeinkommens verlangen; oder in der Forcierung einer allgemeinen Strategie gegen die Festung Europa, die gegen die repressiven Maßnahmen im Bereich der Sicherheits- , Migrations-, Asyl- und Rechtspolitik ankämpft. Neben dem Austausch von Wissen über die kulturpolitischen Entwicklungen in den verschiedenen Regionen Europas ist diese Studie also auch Mittel der Verkettung der AkteurInnen dieses Segments. Unter anderem sollen damit Bewusstsein, (Selbst-)Kritik und Reflexion der politischen Rolle von (Kunst-) Institutionen als AgentInnen (mit positiver und negativer Wirkungsmächtigkeit) gestärkt werden. Schließlich sollen die zu erarbeitenden Strategien die Transversalisierung des radikal-reformerischen kulturpolitischen Diskurses forcieren. Die Chiffre 2015 bekommt damit auch den Charakter eines möglichen Ziels politischer Formierung. Dank an Isabell Lorey und meine eipcp-KollegInnen Andrea Hummer, Raimund Minichbauer und Stefan Nowotny für Kritik und Beratung.
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